Bibliotheca palatina digital

Vortrag von Frau Dr. Maria Effinger beim Museumsverein

Was haben das Pfarrarchiv von St. Georg und die Vatikanische Apostolische Bibliothek gemeinsam? Beide haben Dokumente für die großen Digitalisierungsprojekte der Universitätsbibliothek Heidelberg zur Verfügung gestellt. Über diese berichtete Maria Effinger am vergangenen Mittwochabend auf Einladung des Museumsvereins Bensheim im Pfarrsaal von St. Georg. Maria Effinger ist promovierte Archäologin und Diplombibliothekarin – und die „Mutter“ eines weltweit wohl einzigartigen Programms, in dessen Rahmen große Bestände alter Handschriften im Internet öffentlich gemacht und für die wissenschaftliche Auswertung erschlossen, zugleich aber für jedermann zugänglich werden. Aus erster Hand erfuhren die begeisterten Zuhörer eines überaus lebendigen und anschaulichen Vortrags etwas über die Gründe für den Beginn des Projekts, die Schwierigkeiten der Umsetzung und die Entwicklung bis heute.

Am Anfang stand die Bücherbegeisterung des Kurfürsten Ottheinrich von der Pfalz, der in Heidelberg eine Bibliothek zusammengetragen hatte, die am Anfang des 17. Jahrhunderts nach Berichten mehr Bücher umfasste als die Bibliothek des Vatikans. Zu dieser Sammlung des pfälzischen Kurfürsten gehörten auch die Bestände der Bibliothek des Klosters Lorsch. Als im 30-jährigen Krieg die Katholische Liga Heidelberg erobert hatte, wurden alle damals 3700 Handschriften und die etwa 13 000 Druckschriften nach Rom gebracht und der Vatikanischen Bibliothek einverleibt. Erst 1816 wurden einige der damals entwendeten Bücher zurückgegeben, allerdings nur die deutschsprachigen Handschriften. Alles andere verblieb in Rom, darunter so wichtige Stücke wie das Falkenbuch Heinrichs II. und ein Teil des Lorscher Evangeliars.

Schon in den 1990er-Jahren hatte Maria Effinger mit der Universitätsbibliothek erste Versuche zur Digitalisierung der eigenen Bestände gemacht. Damals in Zusammenarbeit mit einem Institut in Graz und noch nicht für das Internet, sondern auf Hunderten von CDs. In diesem Zusammenhang wurde ein spezieller Aufbau entwickelt, der „Grazer Tisch“, mit der die kostbaren und empfindlichen Bücher schonend gescannt werden können. Nicht die einzelnen Bände müssen dabei bewegt werden, sondern die Kameras fahren um den Band herum. Und die Seiten werden nicht mit einer Glasplatte flach gepresst, sóndern durch Unterdruck nivelliert.

Im Jahr 2006 wurde dann beschlossen, digitalisierte Bestände per Website zugänglich zu machen, und es entstand die kühne Idee der „Bibliotheca palatina digital“: Alle heute über die ganze Welt verstreuten Handschriften der verlorenen Bibliothek Ottheinrichs sollten in einer virtuellen Bibliothek wieder vereint und allgemein zugänglich werden. Was damals noch utopisch schien, ist heute fast schon Realität. Nicht nur die in Heidelberg vorhandenen deutschsprachigen Handschriften, auch die lateinischen und griechischen sind weitgehend erfasst, 2019 sollen noch die hebräischen folgen. Danach will man die Druckschriften der Bibliothek in den Fokus nehmen – mit dem Ziel, zumindest alle diejenigen Bücher zu erfassen, die im Jahr 1986 in Heidelberg waren, als zum 600. Gründungsjubiläum der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 1986 viele Bücher für eine einmalige Ausstellung am alten Standort vereint waren.

Waren die Bibliotheken, die ihre Schätze zur Digitalisierung bereitstellen sollten, am Anfang reserviert bis verschlossen, insbesondere die Vatikanische Bibliothek, so erkannten inzwischen offenbar viele das Potenzial der Heidelberger Pionierleistung und die Zusammenarbeit geschieht viel bereitwilliger, erklärte Maria Effinger. Das war wichtig auch für den virtuellen Rekonstruktionsversuch der verlorenen Lorscher Bibliothek, der seit 2010 unternommen und 2014/15 abgeschlossen wurde. Hätte man zuvor durch 14 Länder reisen müssen, um alle heute noch bekannten Bände zu sehen, so kann jetzt jedermann jederzeit alle Handschriften betrachten. Jede einzelne Seite kann nicht nur in hoher Auflösung angesehen werden, sondern man kann auch nach Textstellen suchen. Textpassagen verschiedener Ausgaben können per Mausklick nebeneinander gestellt und verglichen werden. Die Illustrationen sind erfasst, beschrieben und verschlagwortet  und können bibliotheksübergreifend gesucht und verglichen werden. Sogar bei Datierungsfragen ist die Digitalisierung hilfreich, denn Infrarotaufnahmen machen Wasserzeichen des verwendeten Papiers sichtbar, das dann einzelnen Herstellern und Zeiträumen zugeordnet werden kann.

Nach der „Bibliotheca laureshamensis digital“ ist seit 2016 auch ein Projekt im Gange, das das Lorscher Klosterarchiv rekonstruieren soll. Dessen Hauptarchivale, der berühmte Codex Laureshamensis ist schon erfasst und in vielfacher Hinsicht erschlossen. Die Faksimile-Ansicht der einzelnen Seiten kann zum Beispiel neben die lateinische Edition und deren deutsche Übersetzung gestellt werden. Es gibt auch ein Ortsregister, mit dem man nicht nur relevante Stellen für die Regionalgeschichte auffinden, sondern auch auf einer Karte visualisieren kann. Sogar eine Zeitreise ist per Google Earth mithilfe eines Zeitschiebers möglich. Und wer mag, der kann, wahlweise mit einer Propellermaschine oder einem Düsenjet, über die einstigen Besitzungen des Klosters fliegen. Jedoch war der Codex Laureshamensis bei weitem nicht das einzige Dokument im Klosterarchiv. Und hier kommt das Bensheimer Pfarrarchiv ins Spiel: Dort und im Stadtarchiv gibt es einige Urkunden, die für das „Archivum laureshamense digital“ wichtig sind, überwiegend aus dem 16. Jahrhundert stammend. Die Originale aus dem Pfarrarchiv sind schon digitalisiert – Frau Effinger brachte sie im Rahmen des sehr gut besuchten Vortrags zurück. Dass die Digitalisierung insgesamt ein lohnenswertes Unterfangen ist, beweisen die Abrufzahlen: Täglich wird fast tausend Mal kostenlos auf einen digitalisierten Band der Bibliotheca Palatina zugegriffen, sagte Maria Effinger.

Den nächsten Vortrag des Museumsvereins kündigte Norbert Hartmann für den 14. November an. Um 19 Uhr wird es im Pfarrsaal um  die Burgenlandschaft Odenwald-Spessart gehen. Jürgen Jung berichtet dann über ein Netzwerk, mit dem Burgen und Schlösser im Gebiet Main-Neckar-Bergstraße erfasst werden.